Jeder Bürger soll lesen und schreiben können
Nach einem klaren Wahlsieg der Verfechter der Verfassungsrevision wurde nur wenige Monate später bereits ein neuer Vorstoss für eine Totalrevision eingereicht. Artikel 27 der Vorlage von 1874 kennzeichnet vier Regelungsprinzipien für den Primarunterricht, für deren Umsetzung die Kantone sorgen sollen: Der Primarunterricht soll obligatorisch, unentgeltlich, genügend und unter staatlicher Leitung sein. Welche Motive standen hinter diesen vier Kerngedanken?
Den Primarunterricht für obligatorisch zu erklären, wurde mit den Rechten der Bürger begründet, an der Lenkung des Staates mitwirken zu dürfen. Oder in den Worten des Bundesrates: «einen Bürger, der nicht lesen und schreiben kann, zur Abstimmung aufzurufen, ist ja purer Unsinn» (Bundesrat Dubs, 1872). Das Argument war umso stichhaltiger, als die demokratischen Rechte in der Verfassungsrevision ausgebaut werden sollten. Obwohl das Obligatorium keinen Schulzwang bedeutete und der Unterricht auch weiterhin an Privatschulen oder zu Hause stattfinden konnte, gab es bereits in allen Kantonen öffentliche Elementarschulen oder Primarschulen, die 6 bis 9 Jahre dauerten. Für die Sekundarschulen – die weiterführenden Schulen nach 6 Jahren Primarunterricht, die es in einzelnen Kantonen bereits gab – galt das Obligatorium nicht. Trotz der Verankerung des Obligatoriums in den kantonalen Gesetzen war die Schulbesuchsquote jedoch gering und nahm von der ersten bis zum Ende der Primarschule kontinuierlich ab. Die Befürworter erhofften sich, der Unterrichtspflicht durch die Bundesverfassung mehr Gewicht zu verleihen. Der obligatorische Unterricht wurde zudem als Massnahme gegen Kinderarbeit, Armut und Kriminalität gesehen. Der Unterricht, so die weitläufige Meinung, verschaffe dem Kind des Bedürftigen ebenso wie dem Nachwuchs des Reichsten die notwendige Grundlage einer «ehrenhaften Lebensstellung». Für die nähere Bestimmung des Begriffs «Primarunterricht», den Umfang und die Dauer sollten weiterhin die Kantone zuständig bleiben.